Sayra
Bereits vor Sonnenaufgang hatten ihre Beine sie in die Kapelle des Schlosses geführt. So prunkvoll und beeindruckend das Schlossgebäude auch war, die Kapelle war ein einfacher schlichter Raum. Schmucklos und kahl. Sayra kniete vor dem niedrigen Altar aus hellem Stein. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet und ihre Hände lagen ineinander gelegt in ihrem Schoß. Ihre Lippen formten lautlose Worte. Worte, die kein Mensch hören sollte, die nur an die Schöpferin gerichtet waren. Auch wenn das Mädchen daran zweifelte, dass die Schöpferin sie hörte. In all den achtzehn Jahren hatte sich nichts in ihrem Leben geändert. Sie beendete das Gebet, ihre Bitte, und seufzte leise. Dann hob sie den Blick und starrte auf die Statue aus weißem Marmor. Eine junge Frau mit wallendem langen Haar, das sich wie ein Tuch um ihren Körper schlang. Sie erinnerte Sayra ein wenig an ihre Mutter. Auch die Göttin des Lichts hatte langes Haar und war groß und schlank. Der Körper einer Göttin. Langsam stand das Mädchen auf und sah an sich herunter. Ihr langes Haar fiel ihr in wirren dunkelbraunen Locken über die Schulter. Mochte sie auch die Figur ihrer Mutter haben, so erinnerte sie kaum an sie. Ihre Mutter, stets in seidene weiße Gewänder gehüllt, schien zu schweben, wenn sie die Gänge des Schlosses entlang schritt. Sayra hingegen trug zum Leidwesen ihrer Mutter oft nur lederne Hosen und eine lockere Leinenbluse. Anstatt sich wie eine Prinzessin zu verhalten, hatte Sayra mehr Spaß daran in jungenhafter Kleidung statt Samt und Seide durch das Land zu reiten. Sie war ihrem Vater sehr ähnlich, auch wenn sie ihn nicht kannte. Aber von ihrer Mutter konnte sie weder die Haare noch das Verhalten haben. Lediglich ihre silbergrauen Augen kennzeichneten sie als Tochter der Königin. Sie war vielleicht keine richtige Prinzessin, aber dennoch die wahre Erbin des Throns des Lichts. Sollte ihre Mutter sterben. Sayra schnaubte leise bei dem Gedanken. Ihre Mutter war eine unsterbliche Göttin. Sie konnte nicht sterben. Warum also zwang man sie, den Bastard der Königin, das alles zu lernen, wenn sie ohnehin nie den Thron besteigen würde. Nicht dass sie das wollte, Sayra wusste Besseres mit ihrer Zeit anzufangen.

Langsam drehte das Mädchen sich schließlich um und verließ die Kapelle. Ihr Weg führte sie direkt in die Ställe des Schlosses zur Box Ihrer weißen Stute. Der Legende nach waren die weißen Pferde Sahinans einst aus Licht erschaffen worden, aber Sayra glaubte nicht daran. Schließlich war sie bei der Geburt ihres Pferdes vor sechs Jahren dabei gewesen und es war definitiv nicht aus Licht entstanden, sondern so wie alle anderen Pferde im Land auch. Sie schob den Riegel zurück und öffnete die Boxentür. Die weiße Stute schnaubte und Sayra streichelte ihr über die weiche Stirn. „Tut mir leid, meine Kleine, aber ich reite später mit dir aus. Jetzt nehm ich erst mal Radek, er muss schließlich auch mal wieder bewegt werden. Außer mir macht das ja keiner.“ Sie lächelte und klopfte ihr sanft den Hals. Radek war eins der etwas wilderen Pferde. Eigentlich das Einzige. Wäre ihre Tochter nicht gewesen, hätte die Königin ihn schon längst aus dem Stall verbannt. Doch wie schon so oft hatte die Prinzessin ihren Willen durchgesetzt. Sayra verließ die Box ihrer Stute und ging weiter durch die Stallgasse bis sie an der letzten Box angekommen war. Radeks Box. Die benachbarte Box war leer, ebenso wie die gegenüberliegende. Niemand wollte dem Braunen zu nahe kommen. Die junge Frau nahm ein geflochtenes Lederhalfter zur Hand und betrat ohne zu zögern die Box. Radek stampfte mit dem Huf auf den Boden und schnaubte leise. Er war schon seit Tagen nicht mehr richtig bewegt worden. Niemand wollte ihn reiten und Sayra selbst hatte auch nicht immer Zeit für lange Ausritte. Vorsichtig nährte sie sich ihm und sprach sanft auf ihn ein. Der Hengst senkte den Kopf und machte einen Schritt auf ihn zu. Mittlerweile war er schon so weit, dass er sich von ihr ohne Probleme das Halfter anlegen ließ. Nachdem es sicher an seinem Kopf saß, führte Sayra ihn aus der Box. Der Stallbursche, der ihr in der Gasse entgegen kam, wich hastig zurück, als Radek die Ohren anlegte. Mit einem leichten Grinsen verdrehte Sayra die Augen. Als sie den Stall verließen griff sie nach einer Decke und den Zügeln, die sie zuvor bereit gelegt hatte. Sie befestigte die Zügel am Halfter und hängte sie sich über den Arm. Dann platzierte sie die weiche Decke auf Radeks Rücken und befestigte sie mit einem Ledergurt. Schließlich legte sie beide Hände auf seinen Rücken, sprang und zog sich hoch. Er trat unruhig auf der Stelle und Sayra klopfte ihm beruhigend den Hals. Dann nahm sie die Zügel auf und trieb ihn mit sanftem Schenkeldruck vorwärts. Der Hengst ließ sich das nicht zweimal sagen. Er machte einen Satz und lief dann im schnellen Schritt weiter. Erst als sie den Schlosshof verlassen und freies Gelände erreicht hatten, ließ Sayra die Zügel lockerer und nach zwei Trabschritten fiel der Braune in Galopp. Er hatte unglaublich weiche Gänge und man fühlte sich fast wie auf einem Schaukelstuhl. Für einen kurzen Moment schloss die Prinzessin die Augen und genoss das Gefühl, zu schweben. Ihre langen braunen Haare hatten fast dieselbe Farbe, wie das Fell des Pferdes und peitschten von Winde getrieben hinter ihr her. Man merkte Radek an, dass er lange nicht mehr so hatte laufen können.

Und Sayra ließ ihn laufen. Sie liebte es, so schnell durch die Gegend zu reiten und sah keinen Grund, den Hengst zu bremsen. Erst als sie eine kleine Anhöhe erreichten, zügelte sie ihn und stieg schließlich ab. Elegant rutschte sie vom sein Rücken und holte die Zügel über seinen Kopf nach vorne. Langsam führte sie das schnaubende Pferd zum Rand der kleinen Klippe. Ihr Haar wehte im Wind, als sie sich ein kleines Stückchen nach vorne beugte und hinunter lugte. Ein gähnender Abgrund erstreckte sich vor ihr in die Tiefe. Nicht sehr breit, aber dafür umso tiefer. Die Schlucht des Todes wurde sie im Volksmund genannt. Von weitem sah man die Schlucht nicht. Es sah aus wie ein Hügel. Der Abgrund war tückisch, viele hatten hier aus Unachtsamkeit schon den Tod gefunden. Die Königin sah es nicht gern, wenn ihre Tochter sich dorthin begab. Aber wie so oft setzte sich Sayra über die Verbote und Bitten ihrer Mutter hinweg. Sie führte Radek am Zügel hinter sich her zwischen die Bäume. Dort begann sie den Abstieg auf einem schmalen steinigen Weg. Unter ihren Füßen lösten sich immer wieder kleine Steinchen, die den Weg hinab rollten. Der geheime Pfad schlängelte sich zwischen den halbkahlen Bäumen hindurch und Radek blieb immer wieder mit den Zügeln an kleineren Ästen hängen. Sayra schritt voran und achtete genau darauf, nur auf feste Felsbrocken zu treten. Für den braunen Hengst war das nicht unbeding eine angenehme Strecke, doch er schien ihn zu mögen. Bald hatten sie das Tal der Schlucht erreicht. Von oben war kaum zu erkennen, dass sich tief unten in der Schlucht ein bemooster Pfad befand. Doch so weich der Boden auch war, ein Sturz war in jedem Fall tödlich. Die Prinzessin ließ die Zügel locker und Radek ging freudig neben ihr her. Dafür war der Weg gerade breit genug. Ungefähr in der Mitte der Schlucht blieb die Prinzessin stehen und Radek wandte etwas erstaunt den Kopf zu ihr um. Sayra ließ sich auf dem weichen Moos nieder und wickelte sich die Zügel einmal um die Hand. Sie lehnte sich an die raue Felswand und schloss die Augen. Hier unten war es schon fast gespenstisch still und nur der leise Atem des Pferdes war zu hören. Der Stein schmiegte sich kühl an ihren Rücken und drückte sich in ihre Haut. Es war unbequem, aber die Prinzessin rührte sich nicht. Sie genoss die Stille in der Schlucht und die Einsamkeit, die sie umgab. Hier unten gab es niemanden, der ihr sagte, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Niemanden, der etwas von ihr erwartete. Und niemanden, der sie ständig mit Blicken verfolgte und hinter ihrem Rücken flüsterte, wenn sie vorbei lief. Sie ließ ihre Gedanken los und ließ sie schweben. Hier unten konnte sie endlich allein sein. Kaum jemand kannte den Boden der Schlucht und fast niemand kam hierher. Erst Radeks Schnauben holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Ohne sich zu bewegen, öffnete sie die Augen und ihr Blick huschte nach links und rechts durch die Schlucht. Sie konnte niemanden entdecken, doch der braune Hengst hatte sicher nicht ohne Grund geschnaubt, wenn er sie nicht auf etwas aufmerksam machen wollte. Langsam und so lautlos wie nur möglich stand sie auf. Das Moos dämpfte ihre Schritte und die des Pferdes ebenfalls. Mit Hilfe eines kleinen Felsvorsprungs schwang Sayra sich auf Radeks Rücken. Springen war zu gefährlich. Sie würde sich den Kopf stoßen. Vorsichtig lenkte sie den Hengst durch das Tal und beugte sich dicht über seinen Hals, um nicht an die Felsen zu stoßen.

Die Schlucht war länger als sie von außen wirkte und gegen Ende fielen die hohen Felswände etwas ab. Der Eingang zum Tal war eigentlich nur ein von Pflanzen verhangenes und von Moos bewachsenes Tor, da beide Felswände glatter wurden und zusammen wuchsen. Mit einer Hand hielt Sayra die Ranken und Pflanzen beiseite während sie Radek hindurch lenkte. Helle Sonnenstrahlen empfingen sie außerhalb der Schlucht und sie blinzelte. Die Sonne hatte schon fast ihren höchsten Punkt erreicht und das Mädchen staunte wieder einmal darüber, wie schnell die Zeit im Tal der Schlucht zu vergehen schien. Ihre Mutter wartete sicher bald mit dem Mittagessen auf sie. Sayra seufzte leise. Besser, sie tat ihrer Mutter den Gefallen und erschien zur gemeinsamen Mahlzeit. Sie hatte sich in letzter Zeit schon zu oft davon fern gehalten. Mit einem leichten Schenkeldruck trieb sie Radek vorwärts. Der Braune nickte einmal etwas unwillig mit dem Kopf, schritt aber ohne Zögern voran. Sayra lächelte. Jedem anderen hätte er sich widersetzt. Zwischen ihr und dem wilden Pferd hatte sich eine Art Freundschaft aufgebaut. Radek duldete Sayra in seiner Nähe, weil sie sich als einzige um ihn kümmerte und keine Angst hatte. Sie hingegen hatte Gefallen an dem Braunen gefunden, weil er ihr so ähnlich war. Er war anders. Ein Außenseiter inmitten seinesgleichen. Auch sie war eine Außenseiterin, obwohl sie die Tochter der Königin war. Man achtete und respektierte sie. Niemand würde es je wagen, der Prinzessin auch nur ein Haar zu krümmen oder gar ein böses Wort über sie zu verlieren. Allerdings nicht weil man sie liebte, sondern um der geliebten Königin willen. Sayra wusste, in den Augen der Bürger war sie nicht mehr als ein gewöhnliches Mädchen und des Thrones nicht würdig. Sayra verbannte die Gedanken aus ihrem Kopf. Sie scherte sich nicht um das Geschwätz des Volkes.